Öffentliche Kunst in Hannover

Strich-Code - Ausstellungseröffnung

Während entlang der Strecke vom Historischen Museum zum Tabledance Hands Off die Schwarmkunstaktion mit den verklebten Etiketten dominiert, wird dies durch weitere Exponate von Franz Betz, Ulrike Enders, Dagmar Schmidt an den beiden Endpunkten ergänzt. Dabei tauscht der Innenhof des Museums die Rolle mit dem Bar-Raum - um im Bild des Sex-Themas zu bleiben quasi ein Stellungswechsel. Während der Bar-Raum ausgestattet ist wie ein Museumsraum, gibt es im Innenhof des Museums zwei mit Preisschildern beklebte Käfigimitate für Personen. Entsprechend repräsentieren oder posieren Thalia und Dassy in rotem, mit Etiketten beklebten engen Kostümen. Dazu gibt es drei beklebte Plastikpuppen in aufreizenden Posen. Einmal abgesehen von diesen Exponaten sind nur einige Säulen im unteren Bereich mit Etiketten beklebt. Demgegenüber ist die Bar fast komplett von Boden bis Decke verklebt. Der fröhlich bunte Charakter in der Bar nimmt dann die Umkehrung wieder etwas zurück, wie auch der Museumsinnenhof eher vom Beton und dem Glas der Wände dominiert wird, so daß die Atomsphäre auch recht kühl bleibt, trotz sonnigen Prachtwetters am Eröffnungstag. Aufgrund eines vorangegangenen Unwetters wurde der ursprüngliche Plan aufgegeben, im Innenhof ein Zelt aufzubauen, um eine 'intimere' Atmosphäre zu schaffen, letztlich vielleicht auch schon deshalb ganz hilfreich hinsichtlich des reichlichen Andrangs bei der Eröffnung.

Von Ulrike Enders sind an beiden Ausstellungsorten je zwei Halbschalen von Personen ohne Kopf aufgestellt. Die Figuren sind von den Proportionen her typisch passend zu den in Hannover bekannten Figuren von Ulrike Enders, allerdings ohne Kopf. Halbschalen deshalb, weil sie wie Halbformen wirken, wie ausgegossen oder eine Form überklebend, sind also hohl. Bei passender Größe können die Besucher ihren Kopf hinhalten und die Figuren ergänzen. Sie repräsentieren die Besucher der jeweiligen Orte, wobei man natürlich nicht genau sagen kann, welche Besucher nun besonders typisch für welchen Ort sind. Die Haltung verweist so oder so auf die Rolle des Beobachters, ob nun Museums- oder Kunstexponate an einem Ort oder posierende Frauen am anderen ist natürlich so einfach nicht zu unterscheiden. Nicht nur die Betrachter erscheinen so austauschbar, auch das Betrachtete.

Von Franz Betz finden sich an beiden Orten abstrakte Skulpturen. Die bestehen jeweils aus zwei flachen Platten mit individuellem Schnittmuster nach vorne und oben, jeweils eine schwarz und eine weiß. Zusammengehalten werden die beiden an der Rückkante mit einer bunten Leuchtschlange, die Farben wechseln von Skulptur zu Skulptur. Das Material ist offenbar recht leicht. Daher finden sich im unteren Bereich auch improvisierte Stabilisatoren aus verschiedenem Material, etwa Bierkisten, Metallständer oder ausgemusterte Sonnenschirmständer. Die scheinbar improvisierte Materialwahl und Variation hier steht in starkem Konstrast zur reduzierten Materialwahl und Formgebung des Restes der Skulpturen.
Besonders groß sind die hier daher besonders auffälligen quadratischen Zeichen mit komplex-abstraktem Muster (mobile tagging, QR-code, 2D-code; binäre 2D-Kodierung), die allerdings auch an sonstigen Objekten des Projektes immer mal wieder zu finden sind.
Sofern man ein Mobiltelephon hat, was dafür geeignet ist, kann dieses offenbar über eine Kamera und ein spezielles Programm das komplex-abstrakte Muster in Klartext umwandeln. Nun habe ich so ein Telephon nicht und diese komplex-abstraktem Muster sind offenbar nicht barrierefrei und zugänglich ausgelegt, grenzen also gezielt aus. Vor den Werken stehend hatte ich also keine Ahnung, was sich dahinter verbirgt, ein barrierefreier und zugänglicher Informationszugang ist ja nicht vorhanden. Eine Verwendung solcher binär verschlüsselter Informationen ohne entsprechenden Klartext scheint mir jedenfalls deutlich kritikwürdig zu sein, weil es bestimmten Interessierten Information gezielt vorenthält. Ich kann auch nicht erkennen, daß diese Problematik bei diesen Werken gezielt thematisiert werden soll, gehe daher einfach von einer unüberlegten, nicht durchdachten Verwendung aus.
Ich habe mir dann ein Programm auf dem Rechner installiert, welches QR-code aus einigen meiner Photos auslesen kann. Ein Beispiel hat nur einige asiatische Schriftzeichen (chinesisch, japanisch?) hervorgebracht. Bei anderen Beispielen ist mal abgesehen von Problemen beim Umlaut herausgekommen: 'Soll ich Ihnen zum Kunstwerk etwas erklären?' oder auch 'Korrekte Hose', 'Zisch ab!', 'Kommste net rain!'. Die entschlüsselten Botschaften mögen also abwechselnd mit Museumsführern oder Türstehern korrespondieren, wobei ich mit der Konversationstechnik letzterer keine praktische Erfahrung habe und nur eine beabsichtigte Korrelation vermute.

Von Dagmar Schmidt gibt es im Museumshof eine Kollage, von puscheligen Schlangen umgeben. Die Kollage liegt auf ein paar Treppenstufen und zeigt einige Szenen aus der 'normalen' Betriebszeit der Tabledance-Bar. Aufgrund der flachen Auslage sind die Motive allerdings schlecht zu erkennen. In der Bar zeigt Dagmar Schmidt eine originelle Variation zu ready-mades oder zur Konzeptkunst. Zahlreiche Ausstattungsobjekte der Bar sind mit Titel, Aufstellungsdatum und einer ausführlichen Erklärung über Funktion und Materialwahl versehen. So wird dieser Bereich zu einem Museumsraum konvertiert. Im Halbdunkel der Bar sind die Beschriftungen allerdings für einige Besucher nicht einfach zu lesen. Ergänzt wird die Ausstattung der Bar zudem durch bereits beschriebene Objekte von Ulrike Enders und Franz Betz. Dazu gibt es noch eine im Rechteck gruppierte Serie von kleinen Bildern von Dagmar Schmidt, insgesamt und etwas unscharf einen Ausstellungsraum zeigend, bei welchem gerade von einer Ausstellung zur nächsten umgeräumt wird. Dazu gibt es einige weitere Bilder aus Etiketten von Kerstin Schulz. Auch diese Exponate sind wie die Ausstattung der Bar 'museal' beschriftet. Von meinem Eindruck her funktioniert das Konzept der Beschriftung, der Benennung zu Ausstellungs- oder Kunstobjekten hier sehr gut und bleibt in einer subtilen Balance zwischen interessanter Information und Verfremdungseffekt.

Die Bilder von Kerstin Schulz in der Bar sind originelle Variationen zu bekannten Werken von Roy Lichtenstein, Pablo Picasso, Vincent van Gogh, Edvard Munch. Pop-Art-ähnlich werden die Motive auf wenige farbige Strukturen reduziert. Die Etiketten befinden sich auf mehreren durchsichtigen Ebenen, um eine Tiefenstaffelung zu erreichen. Zusätzlich gibt es hier auch wieder eine beklebte Puppe und einen Torso, dieser mit einer überraschenden Spitze auf einer Brust und einigen Furunkel-ähnlichen Ausstülpungen am Körper.

Die Eröffnung der Ausstellung fand am 2012-09-09 im Innenhof des historischen Museums statt. Da gab es natürlich von einigen Leuten Vorträge oder Reden, um das Projekt zu erläutern, verschiedenen Personen zu danken oder Zusammenhänge zu erläutern, Schwarmkünstler vorzustellen. Auch dank einiger Zeitungsberichte basierend auf einem Pressetermin einige Tage zuvor war die Veranstaltung recht gut besucht.

Natürlich wurde auch auf das kontroverse Thema eingegangen, mit Kunst, Zeitungs- und Fernsehberichten das Thema der Prostitution in die Mitte der Gesellschaft zu bringen. Neben ihren Darstellungen in den Käfigimitaten sind Thalia und Dassy auch ausdrücklich zu Gesprächen mit interessierten Besuchern bereit, wie auch eine weitere Dame aus dem Gewerbe mit einer Rede nochmals betont hat, daß die selbstbestimmte Arbeitswahl legitim sei und so dazu aufrief, für die Rechte der Prostituierten, auch Sex-Arbeiter genannt, einzutreten, ihr Leben, ihre Sexualität und Arbeit selbst zu bestimmen, wie andere Arbeiter das auch können. Von daher wurde das Postitutionsgesetz sicher als Fortschritt gewertet, nach wie vor gibt es aber wohl Benachteiligungen und Diskriminierungen in vielfältiger Form.

Nach den Reden und Vorträgen haben dann Thalia und Dassy in den Käfigimitaten posiert. Nach meinem Empfinden war die Interaktion besonders mit dem photographierenden Publikum besonders eindrucksvoll. Macht nicht gerade das rege, sagen wir mal voyeuristische Gehabe die Frauen zu Sexobjekten, zu vorgezeigtem Fleisch? Das ist hier natürlich beabsichtigt, um den Warencharakter zu hervorzustellen - und das Publikum macht mit. Das dabei für mich eher unangenehme Gefühl hat mich dann zumeist auch bei Bildern bewogen, die Stangen des Käfigs oder auch die Aufnahmerichtung relativ zur Person so zu wählen, daß der Eindruck des unbemerkten Blicks aus dem Hintergrund entsteht, jedenfalls nicht direkt der Eindruck des Posierens für exakt dieses Bild. Interessant ist natürlich auch die Interaktion mit den anderen Photographen. Macht der Photograph das Motiv, die Person zum Objekt? Was wäre mit einer weiteren Umkehrung? Die Darstellerin im Käfig beobachtet, photographiert das Publikum oder das Publikum geht in den Käfig und die Darstellerinnen photographieren von außen - ein Stellungswechsel gewissermaßen?

Einerseits sollte man natürlich festhalten, daß erwachsene Menschen jedenfalls ein legitimes Recht darauf haben, ihr Sexualleben selbst zu bestimmen. Einvernehmlicher Sex fügt ja zudem auch Unbeteiligten keinen direkten Schaden zu, das passiert allenfalls indirekt, wenn Beteiligte dabei ihre Lebenspartner betrügen, was jedoch eher den Betrügern anzulasten ist als jenen, die mit Sex ihren Lebensunterhalt verdienen wollen, ohne etwas zu verheimlichen.
Andererseits wird aber wohl auch die Statistik zeigen, daß doch wohl viele Prostituierte auf der Welt gar nicht so freiwillig arbeiten wie die auf der Eröffnung anwesenden Vorzeige-Damen. Vermutlich sind diese in ihrer aktuellen Lebenssituation nicht repräsentativ - und mit zunehmendem Alter und steigendem Dienstzeit kann sich die Lebensituation von Spaß an der Arbeit doch sehr leicht ändern, wenn es nicht mehr so einfach ist, sich lukrative und angenehme Geschäftspartner auszuwählen. Ähnlich wie bei einigen anderen Berufen sind an sich sicher noch diverse Regelungen der Arbeitssicherheit für die Beteiligten zu klären, ebenso wie angemessene Versicherungen etc. Wie wohl auch bei Berufssportlern gilt es wohl auch zu klären, wie sich ein Ausstieg aus der Szene organisieren läßt, wenn aus der freiwilligen, anfangs attraktiven Arbeit dann doch irgendwann eine Tortur wird, die Körper und Psyche belastet bis zum Verschleiß.
Wie so oft, sind die Dinge nicht so einfach - worin besteht die hier geforderte Akzeptanz denn eigentlich? In einer legalen Einordnung in die Arbeitswelt unseres Wirtschaftssystems? Oder sollte es doch eher schwerpunktmäßig darum gehen, zu vermeiden, daß Mitmenschen in eine Situation gedrängt werden, wo diese Arbeit dann eben gar nicht mehr so freiwillig ist?
Gesellschaftliche Akzeptanz kann man auch kaum erzwingen oder erbetteln. Toleranz kann man allerdings erwarten, was das Recht eines jeden betrifft, sein Leben selbst zu bestimmen, solange damit niemand anderem direkt geschadet wird. Allerdings kann der Gesetzgeber bei einen 'normalen' Gewerbe auch gewisse Standards festlegen, um Arbeiter und Kunden zu schützen. Fehlende Standards oder mangelnde Einhaltung von Regeln führen ja auch in Krankenhäusern zunehmend zu bedenklichen Problemen und Risiken für Mitarbeiter und Patienten. In dem Bereich kann es ja nun zu ähnlich engen Kontakten zwischen Menschen kommen. Von daher erscheint es nicht so erstaunlich, daß das Bedürfnis besteht, derartige Gewerbe zu regulieren.

Neben den rechtlichen Aspekten gibt es natürlich auch noch persönliche Vorstellungen davon, wie man leben sollte und wie eher nicht. Aus den eigenen Wert- und Moralvorstellungen heraus sollte man anderen aber keine Vorschriften machen.
Von einer idealistischen Perspektive heraus stellt sich aber natürlich die Frage, wie schlecht die Gesellschaftssysteme eigentlich sind, in denen wir seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden leben und wie groß da eigentlich die gesellschaftlichen Fortschritte wirklich sind, wenn alles kommerzialisiert und zur Ware werden kann, bei einigen eben die Sexualität, bei anderen die Gesundheit oder die eigenen Wertvorstellungen. Prostitution gibt es eben nicht nur bei der Sexualität, sondern auch bei vielen anderen Berufen, die gesellschaftlich deutlich besser akzeptiert sind. Bedenklich ist es eben, daß Viele (immer noch) zu Handlungen durch wirtschaftliche Zwänge oder Verlockungen gedrängt werden, die mindestens auf Dauer nicht gut für sie selbst sind. Die Fürsorge der Gesellschaft, des Staates sollte natürlich dort den Schwerpunkt haben, wo solche Zwänge und Disparitäten abgemildert werden sollten und nicht darauf abzielen, wie die Menschen auf solche Zwänge und Disparitäten reagieren. Nur die Menschen können sich auch frei entscheiden und selbstbestimmt leben, die auch brauchbare und realistische Alternativen haben.

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