Öffentliche Kunst in Hannover

Die Göttinger Sieben

Als Ernst August, vom dem vor dem Bahnhof ein Reiterstandbild, aus heutiger Sicht eher ein Mahnmal steht, 1837 im Königtum Hannover an die Macht kam, setzte er kurzerhand die wenige Jahre zuvor mit seinem Vorgänger mühsam ausgehandelte Verfassung außer Kraft. Wegen Protestes gegen diesen verfassungfeindlichen Akt wurden sieben Professoren aus Göttingen ihrer Professuren enthoben und teils ins Exil getrieben. Mit diesen Opfern des machtgeilen Popanzes Ernst August von Hannover sind die Göttinger Sieben gemeint, derer mit diesem Denkmal gedacht wird.

Statt die Professoren und den Ernst August, auch hier auf einem Pferd dargestellt wie am Bahnhof, zu portraitieren, hat Bodini stattdessen Bekannte als Modelle gewählt, um in dem mehrteiligen Ensemble aus Bronze realistische Figuren zu schaffen. Neben den Professoren und dem König gibt es eine weitere, nackte Person an der Seite des Portals, gleichsam ein Symbol für das bloßgestellte Land oder die Verfassung, der gedemütigte und entrechtete Bürger, auch ein wenig als tragikomischer Hampelmann dargestellt.

Weil Bodini nicht etwa - wie man auf den ersten Blick meinen könnte - einfach klassisch die Göttinger Sieben und den Ernst August darstellt, sondern andere Personen, gleichzeitig aber mit dem scheinbar klassischen Stil Bezug nimmt auf die Zeit des Verfassungsbruchs durch Ernst August, aber auch auf das Portrait desselben als Reiterstandbild vor dem Bahnhof, gelingt Bodini ein modernes, ganz anderes Konzept von Abstraktion vorzustellen. Mit einem feinsinnigen, gut durchdachten Konzept vermag er es so, entweder zu verblüffen oder zu erstaunen. So mancher ist auch überfordert von solch einem komplexen Konzept, weswegen es auch zu vielen oberflächlichen, ablehnenden Beurteilungen des Werkes kommt. Sogar dies paßt zum Werk, denn das 'gemeine' Volk hat sich damals auch nicht groß um Verfassungsbruch und Opfer vom Ernst August gekümmert. Warum sollte heute das Denkmal besser verstanden und beachtet werden?

Bodini deutet mit dieser Abstraktion auf praktisch beliebige Personen an, daß es zum einen an uns allen liegt, soziale Rechte gegen den Zugriff machtgieriger Subjekte zu verteidigen, die durchaus nicht nur als Erbkönige auftauchen können, sondern auch als Diktatoren und Manipulatoren aus der Mitte des Volkes auftauchen können, um Macht an sich zu reißen und Kontrolle auszuüben. Ein wehrhafter, vitaler Staat ist ein solcher, wo die Bürger genau darauf achten, wann die aktuellen politisch relevanten Figuren ihre Machtbefugnisse überschreiten und sich dann dagegen auflehnen und dafür sorgen, daß solche Leute keine Verantwortung mehr übernehmen können, keine Macht mehr mißbrauchen.

Das begehbare Ensemble ist in die Struktur des Platzes integriert, es werden keine oder allenfalls kleine Sockel für die Figuren verwendet, mit Ausnahme vom Ernst August, welcher wie am Bahnhof samt Pferd auf einem hohen Sockel steht, sich so über die anderen hinwegsetzt, erhebt und in lockerer Cäsaren-Pose das Ansinnen der engagierten Bürger mit leichter Geste abwehrt. Der lockere Ernst August hier steht in Korrespondenz und auch im Kontrast zum uniformierten stocksteifen Husaren am Bahnhof. Gleichzeitig wirken diese Figuren hier allesamt viel realer, näher, 'lebendiger' als jener am Bahnhof und läßt diesen und seinen Machtanspruch auch gleich etwas absurd wirken, holt ihn faktisch vom Sockel auf den Boden der Tatsachen unserer Zeit, wo immerhin alle Bürger gleiche Rechte und Pflichten haben und es keinem Einzelnen zusteht, auf hohem Roß den machtgeilen Popanz zu geben. So sorgt auch die Positionierung einiger Personen durch Anordnung des Ensembles an einer Treppen wieder zu einem ungefähren Angleich an den höheren Sockel von Ernst August, der an der tiefsten Stelle des Ensemblebereiches steht.

Nun ist es durchaus angemessen und richtig, daß uns der Ernst August vor dem Bahnhof erhalten bleibt, denn das ist ja nur eine Skulptur und nicht der Herr selbst, dessen Überreste übrigens im Berggarten in einem Museum eingelagert sind, welches da auch eher wie ein Fremdkörper wirkt. Was aber Fragen aufwirft: Warum hat man offenbar nach diesem Ernst August eine monströse, einfallslose Einkaufswüste nahe dem Hauptbahnhof benannt - und zwar ein paar Jahre, nachdem man dieses Landesdenkmal für dessen Opfer, die Göttinger Sieben aufgestellt hat? Ich denke, da bietet sich noch einiger Raum für Vergangenheitsaufbearbeitung und Bewertungskonsistenz in Hannover, obgleich man andererseits auch der Auffassung sein kann, daß das trostlose Einkaufsmonstrum auch eigentlich gar keinen besseren Namenspatron verdient und somit die etwas geschmacklose oder unüberlegte Namenswahl den Kern des Gebäudes ganz gut trifft. Mit etwas mehr architektonischer und künstlerischer Phantasie hätte man ansonsten zum Beispiel eher die Brüder Grimm als Namenspatrone wählen können, die auch zu den Göttinger Sieben gehören und in der historischen Bewertung besser wegkommen als der Ernst August ;o)

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